Zuständigkeitswechsel: EuG entscheidet zukünftig in Verbrauchsteuer- und Zollsachen
Seit dem 1. Oktober 2024 ist für Vorabentscheidungsverfahren u.a. in den Sachgebieten Zollkodex, Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur und Verbrauchsteuern nicht mehr der Gerichtshof (EuGH), sondern das Gericht der Europäischen Union (EuG) zuständig. Diese Änderung wird Auswirkungen auf die Praxis haben, nicht zuletzt auf die Verfahrensdauer.
Kontext
Der Gerichtshof der Europäischen Union als eines der sieben Organe der EU unterteilt sich in den Gerichtshof und das Gericht, deren Zuständigkeit u.a. in Art. 256 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union geregelt ist.
Eines der wichtigsten Verfahren, um Rechtseinheitlichkeit innerhalb der Union herzustellen, ist das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV: Nationale Gerichte der Mitgliedstaaten legen dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vor, die für den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit relevant sind. Für diese Vorabentscheidungsverfahren war bislang ausschließlich der Gerichtshof zuständig. Wegen zunehmender Überlastung des EuGH sind mit der Verordnung (EU, Euratom) 2024/2019 vom 11. April 2024 Vorabentscheidungsverfahren in bestimmten Sachgebieten dem EuG übertragen worden. Die Möglichkeit hierzu bestand bereits seit dem Vertrag von Nizza in 2003, allerdings wurde erst jetzt von ihr Gebrauch gemacht.
Die neue Rechtslage
Aufgrund des neuen Art. 50b der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist fortan das EuG u.a. für Vorabentscheidungsverfahren in den besonderen Sachgebieten gemeinsames Mehrwertsteuersystem, Verbrauchsteuern, Zollkodex und zolltarifliche Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur zuständig.
Das gilt allerdings nur unter zwei Bedingungen: Erstens müssen die Fragen des nationalen Gerichts ausschließlich eines oder mehrere dieser Gebiete betreffen. Zweitens dürfen die vorgelegten Fragen keine eigenständigen Fragen der Auslegung der EU-Verträge, des Völkerrechts, der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder der EU-Grundrechtecharta betreffen. Wenn eine oder beide Bedingungen nicht erfüllt sind, ist wie früher unmittelbar der Gerichtshof zuständig. Insbesondere mit der zweiten Bedingung soll sichergestellt werden, dass Grundsatzfragen des Unionsrechts weiterhin vom Gerichtshof entschieden werden.
Trotz dieser Änderung werden weiterhin alle Vorabentscheidungsersuchen dem Gerichtshof vorgelegt. Der Gerichtshof (nach seiner Verfahrensordnung der Präsident) entscheidet dann „so schnell wie möglich“, ob das Gericht oder der Gerichtshof zuständig ist. Wenn der Gerichtshof eine Rechtssache an das Gericht abgegeben hat und das Gericht bei genauerer Prüfung den Gerichtshof für zuständig hält, muss es die Sache zurückverweisen.
Die Neuregelung gilt für alle Vorabentscheidungsersuchen, die seit dem 1. Oktober 2024 vorgelegt wurden.
Im Rahmen dieser Reform wurden weitere Änderungen vorgenommen: So werden Schriftsätze im Vorabentscheidungsverfahren nach dessen Abschluss künftig veröffentlicht, wenn nicht die Beteiligten zuvor widersprochen haben. Zudem wird zusätzlich zu kleiner und großer Kammer am EuG eine mittlere Kammer eingerichtet, die auf Parteiantrag über die Vorabentscheidungsverfahren entscheidet.
Bedeutung in der Praxis: Verfahrensdauer und Rechtsmittel gegen Entscheidungen des EuG
Auf den ersten Blick könnte die Reform durchaus zu einer Verkürzung der Verfahrensdauer für Vorabentscheidungsverfahren führen: Zuvor dauerte es wegen der hohen Arbeitsbelastung des Gerichtshofs fast 1,5 Jahre (im Jahr 2023 durchschnittlich 16,8 Monate, vgl. Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs), bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs über die Vorlagefrage. Das Gericht könnte nun in kürzerer Zeit entscheiden, insbesondere weil bereits umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den übertragenen Sachgebieten vorliegt, an der sich das Gericht orientieren kann.
Andererseits dürfte der vorgelagerte Prozess der Entscheidung über die Zuständigkeit von Gericht und Gerichtshof die Verfahren zumindest in Einzelfällen deutlich verlängern. Unklar ist jedenfalls, wie lange der Gerichtshof für die Zuständigkeitsentscheidung benötigen soll, wenn diese „so schnell wie möglich“ getroffen werden muss. Die Erwägungsgründe der Verordnung (EU, Euratom) 2024/2019 schaffen wenig Klarheit, wenn dort auf einen Zeitrahmen verwiesen wird, „der nicht über das hinausgeht, was unter Berücksichtigung der Art, Dauer und Komplexität der Rechtssache unbedingt erforderlich ist“ (Erwägungsgrund 14).
Außerdem ist fraglich, ob und unter welchen Voraussetzungen die Entscheidung des EuG über die Vorlagefrage vom Gerichtshof überprüft wird. Für die spezielle Konstellation der an das EuG delegierten Vorabentscheidungsverfahren ist Art. 256 Abs. 3 UAbs. 3 AEUV einschlägig. Hiernach ist eine Überprüfung einer Entscheidung des Gerichts durch den Gerichtshof nur in Ausnahmefällen vorgesehen, wenn mit der Entscheidung „die Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts“ berührt wird. Nach Art. 62 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist ausdrücklich nur der Erste Generalanwalt am EuGH berechtigt, eine solche Überprüfung eines EuG-Urteils durch den Gerichtshof einzuleiten.
Im Ergebnis bleibt abzuwarten, ob die mit der Reform verfolgten Ziele, insbesondere die Verkürzung der Verfahrensdauern erreicht werden. Jedenfalls handelt es sich um eine für die Bereiche des Zoll- und Verbrauchsteuerrechts maßgebliche, aber bislang wenig beachtete Veränderung des justiziellen Rahmens der Union.